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Anästhesien

Mittels Betäubung (Anästhesien) verschiedener Strukturen kann eine Schmerzausschaltungsdiagnostik betrieben werden. Dadurch wird im Idealfall der Erkrankungsherd eindeutig lokalisiert. In der Realität gibt es aber im Zehenbereich erhebliche Schwierigkeiten mit der Aussagefähigkeit von Anästhesien. Eine eindeutige Differenzierung von Schmerzherden im distalen (unteren) Zehenbereich ist fast nicht möglich. Anästhesien sind dennoch absolut unabdingbar für die Diagnostik des Hufrollensyndroms.

Wie bei der Anatomie beschrieben liegen sehr viele Strukturen, die alle sehr empfindlich sind und alle erkranken können, sehr nahe beieinander oder sind funktionell miteinander verbunden. Außerdem darf man nicht erwarten, dass immer nur eine der Strukturen geschädigt ist sondern in der Regel mehrere der Strukturen zu unterschiedlichen Ausmaßen betroffen sind - dass also mehrere Stellen gleichzeitig Schmerzen verursachen. Auch funktionelle Aspekte spielen eine Rolle, besonders dann, wenn die Dämpfungs- und Abfederungsmechanismen geschädigt oder eingeschränkt sind, das Pferd nicht mehr normal fußt, weil jeder Tritt eine Prellung der gesamten Gliedmaße gleich kommt und jetzt einfach alles weh tut. In so einem Fall die Urursache von Sekundärerscheinungen zu trennen kann sehr schwierig sein, besonders, wenn die Sekundärschäden mehr schmerzen als die Grunderkrankung.

Mit dem zunehmenden Spektrum der Diagnoseverfahren, die uns zur Verfügung stehen, wird es heute eher möglich zu einer differenzierten Diagnose zu kommen. 

Die Nähe der Verschiedenen Strukturen nebeneinander stellt bei den diagnostischen Anästhesien ein bisher weitgehend ignoriertes Problem dar. In den letzen Jahren wurde hier intensiv geforscht und man hat festgestellt, dass entgegen der bisherigen Annahme die Anästhesien wesentlich weniger spezifisch sind als bisher angenommen.

Trotzdem sind die diagnostischen Anästhesien die Grundlage der Lahmheitsdiagnostik, da nur über sie Schmerzherde eingegrenzt werden können und das Pferd uns ja leider anders nicht mitteilen kann, wo es weh tut. Und alle bildgebenden Verfahren helfen auch nicht mit Sicherheit, da zum Beispiel ein fürchterlicher Röntgenbefund überhaupt nicht schmerzhaft ein muss, während eine Struktur die auf Bildern völlig unverändert erscheint, hoch schmerzhaft sein kann.

 

Schmerzempfindung und Schmerzleitung

Generell werden Schmerzen in drei Kategorien eingeteilt:

Typ 1-Schmerz

Typ 1-Schmerz wird als stechend, intensiv, streng lokalisiert  wahrgenommen. Typ 1- Schmerz ist sozusagen das Alarmsignal des Körpers zur schnellen Mitteilung eines akuten krankhaften Geschehens bzw. einer schädlichen äußeren Gewalteinwirkung. Typ 1- Schmerz wird ausgelöst durch starke Kälte, starke Hitze oder starke mechanische Einwirkungen (Verletzungen). Die Schmerzsignale werden von der Peripherie zum Gehirn über ein sehr gut organisiertes und sehr schnell leitendes Fasersystem (Alphafasern) zum Gehirn übermittelt.  Die Schmerzmitteilung lässt sich sehr genau der betroffenen Region zuordnen, wodurch eine gezielte schnelle Schmerzvermeidungsreaktion ausgelöst werden kann.

Nach einer Verletzung folgt dem Typ 1- Schmerz der langsamer eintretende Typ 2- Schmerz.

Typ 2-Schmerz

Der Typ 2- Schmerz wird ebenfalls durch thermische und mechanische Stimuli ausgelöst. Wichtiger ist aber, dass bei Entzündungen  durch die Freisetzung von Gewebshormonen und chemische Veränderungen im Bereich der Verletzung Schmerz signalisiert wird. Typ 2- Schmerz- Information wird über so genannte C- Fasern zum Gehirn vermittelt, die wesentlich langsamer Informationen leiten, weniger gut und weniger gewebsspezifisch organisiert sind. Aus diesem Grund ist Typ 2- Schmerz auch weniger gut lokalisierbar, weniger stechend sondern eher dumpf und anhaltend. Typ 2- Schmerz wird häufig auch als brennend oder pulsierend wahrgenommen. Im Gegensatz zum Typ 1-Schmerz hält Typ 2- Schmerz in der Regel so lange an, bis die Heilung eingetreten bzw. die Entzündung abgeflaut ist.

Der Zweck von Typ 2- Schmerz ist weniger die Auslösung einer Vermeidungsreaktion sondern den Organismus zu veranlassen, die betroffene Region zu schonen und weiteren Schaden durch Belastung zu vermeiden. Wir erkennen dies dann beim Pferd als Lahmheit.

Typ 3-Schmerz

Der Typ 3- Schmerz ist erlernter Schmerz oder Schmerz, der eigentlich keine Grundlage im Sinne einer nicht ausgeheilten Verletzung oder Entzündung hat. Typ 3- Schmerz wird auch über den Zeitpunkt der Ausheilung einer Verletzung noch wahrgenommen. Typ 3- Schmerz ist diagnostisch und therapeutisch sehr schwer in den Griff zu bekommen.

 

Die Problematik des erlernten Schmerzes

Das Phänomen des Typ 3-Schmerzes bei der Problematik des Hufrollensyndroms dürfte eine völlig unterschätzte Rolle spielen. Dieses Phänomen ist beim Pferd bisher überhaupt nicht untersucht und wird sich auch schwer untersuchen lassen, da man den Patienten nicht befragen kann.

Generell laufen Schmerzinformationen von der Peripherie über spezielle Regionen des Rückenmarks, wo sie auf dem Weg zum Gehirn das erste Mal gefiltert werden. In diesem ersten Filter werden sie entweder verstärkt oder abgeschwächt. Wenn sie stark genug sind, werden sie zu höheren Zentren im Gehirn weitergeleitet. Dort durchlaufen sie weitere Filter, bis ein genügend starkes Schmerzsignal zum Bewusstsein gelangt.

Der Rest wird ausgefiltert und erreicht das Bewusstsein nicht. Durch bestimmte interne und externe Faktoren können diese Filter nun verstellt werden. Meist wird der Filter dahingehend verstellt, dass Schmerzsignale leichter durchgelassen werden (Überempfindlichkeit) und Stimuli, die normalerweise nicht als Schmerz empfunden würden, nun als Schmerz wahrgenommen werden. Oder geringe Schmerzen werden durch die Sensibilisierung als wesentlich schlimmer wahrgenommen als sie sonst empfunden würden.  Dies ist die erste Stufe des Typ 3- Schmerzes.

Die Schmerzwahrnehmung kann sich aber weiter verselbstständigen. Zum einen ist das Phänomen des Amputationsschmerzes bekannt. Hier existiert die Peripherie des Nerven gar nicht mehr (amputierte Gliedmaße oder abgetrennter Nerv) aber es wird im Bewusstsein trotzdem in dieser Region ein Schmerz wahrgenommen. Dies ist ein reiner Phantomschmerz. Als Komplikation ist dies auch beim Pferd nach einem Nervenschnitt bekannt.

Solche Schmerzen können auch bei intakten Nervenbahnen ohne jegliche Verletzungsgrundlage auftreten, wenn aus dieser Region über längere Zeiträume Schmerzsignale übermittelt wurden. Dieses Phänomen dürfte dafür verantwortlich sein, dass Pferde, die über lange Zeiträume am Hufrollensyndrom erkrankt sind, bei der Anästhesie der betroffenen Region oder nach Neurektomie (obwohl keine weiteren Erkrankungen vorliegen) nicht vollständig schmerzfrei werden oder die Schmerzfreiheit erst sehr verzögert eintritt.

Typ 3- Schmerz oder Phantomschmerzen sind als eigenständige Erkrankungen zu betrachten und auch bei Menschen ein kaum zu lösendes therapeutisches Problem, auch wenn es hier medikamentelle Ansätze gibt. Der chronische Schmerz hat erhebliche Auswirkungen auf andere Körpersysteme, was sich in entsprechender Symptomatik äußert. Hierzu gehört unter anderem ein permanenter Stresszustand mit dauerhaft erhöhten Adrenalinspiegeln, körpereigenem Kortisonüberschuss oder -defizit, Testosteronmangel, Insulin- u. Fettverschiebungen und nicht zuletzt dadurch auch die Unterdrückung des Immunsystems. Äußere Anzeichen sind häufig Abmagerung, ggf. Aggressivität oder Abgeschlagenheit.

 

 

 

Einzelheiten Anästhesien

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